Manchmal ist es lediglich ein Stein, faustgroß nur, aber an den Kanten messerscharf. Eine
Wurzel, versteckt unter Laub. Eine unscheinbare Pfütze, völlig harmlos auf den ersten Blick,
doch knietief. Eine Mountainbike-Strecke besitzt die unverwechselbare Eigenschaft,
unberechenbar zu sein. Sie ist launisch und halsbrecherisch, voller Tücken, Unwägbarkeiten
und böser Überraschungen.
An jedem Abhang, hinter jeder Kurve, in jeder verwinkelten
Schikane lauert Gefahr. „Deshalb ist es immer Teil einer gewissenhaften Vorbereitung, dass wir
die Strecken an den Tagen vor den Rennen in Ruhe abfahren“, sagt Elisabeth Brandau,
mehrfache deutsche Mountainbike-Marathon-Meisterin und äußerst erfolgreich in der Disziplin
Cross-Country, „weil es wichtig ist, die Besonderheiten und die versteckten Hindernisse genau
zu kennen.“ Und weil das Wissen um die ständig wechselnde Beschaffenheit einer Piste
letztendlich mitentscheidend ist über Sieg und Niederlage.
Allein ein gewöhnliches Radrennen auf geteerten, ebenen Straßen wird von vielen
Faktoren permanent beeinflusst. Angefangen von körperlicher Fitness, Tagesform und
mentaler Stärke; über Erfahrung, das richtige Material, die beste Strategie; bis hin zu Wind und
Wetter, Rennverlauf und nicht zuletzt dem Glück, im richtigen Moment in der richtigen Position
zu sein, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Bei Mountainbike-Rennen kommt aber
noch eine weitere Komponente hinzu, die sich aus der Unberechenbarkeit der verschiedenen
Kurse ergibt: Mut. Viel Mut sogar und damit die Bereitschaft ins Risiko zu gehen und Grenzen
auszutesten. Sie auszureizen. Die natürlichen Grenzen einer Rennstrecke, die
Belastungsgrenzen des Materials und nicht zuletzt die eigenen, physischen und psychischen,
Grenzen. „Vermutlich macht genau das den besonderen Reiz dieser Sportart aus“, sagt
Elisabeth Brandau.
Für die Rennfahrerin, deren Weg zu den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016
Partner und Ausstatter Röger Sauna begleitet, ist es ein Vabanquespiel. „Grenzen hat man ja
nicht nur im Sport. Überall, wo man Ziele auf dem höchsten Niveau erreichen möchte oder
besser sein möchte als andere oder besser sein als man selber ist, muss man an seine Grenzen
gehen. Man sollte sie aber nicht zu sehr überschreiten, sonst hat man das Gegenteil erreicht. In
Mountainbike-Rennen darf man deshalb niemals mit dem Kopf durch die Wand wollen. Dann
nämlich braucht man viel Glück und das ist irgendwann aufgebraucht.“ Es ist ein ständiges
Abwägen und Ausloten zwischen Risiko und Sicherheit. Die Rechnung lautet: Wie viel weiter als
meine Konkurrenten muss ich an die Grenzen gehen, um am Ende schneller zu sein, ohne
dabei meine Grenzen zu überschreiten und deshalb mit leeren Händen dazustehen. Ein
schmaler Grat. Schwer zu kalkulieren. Selbst mit der Erfahrung von zehn Jahren
Hochleistungssport nicht.
Das Seltsame ist, dass sich selbst der eigene Wille, ins Risiko zu gehen, nicht immer
verlässlich vorhersagen lässt und die Grenze der eigenen Grenzen nicht immer definieren. Am
Anfang ihrer Karriere war Elisabeth Brandau, 28, in gewisser Weise sorgloser, furchtloser,
ungestümer als heute. Sie war eher bereit, Grenzen zu überschreiten, von denen sie nicht
ahnte, dass sie existieren. Ein wenig waren diese frühen Rennen wie eine Wette, bei der der
Gewinner alles bekam und der Verlierer nichts. „Bei meiner ersten Deutschen Meisterschaft im
Marathon bin ich gleich nach drei von 103 Kilometern weggefahren. Ich dachte, ich gebe
Vollgas und kämpfe dann bis zum Umfallen. Die frisch gebackene Olympiasiegerin Sabine Spitz
ist nach gut der Hälfte der Strecke sogar ausgestiegen, so groß war mein Vorsprung. Am Ende
aber hatte ich keine Kraft mehr und musste am letzten Anstieg laufen und konnte deshalb den
Vorsprung vor der Zweiten nur knapp ins Ziel retten. Da hatte ich wohl mehr Glück als
Verstand“, sagt sie rückblickend.
Mit den Jahren kamen Erfahrung, Routine, Technik und damit radfahrerische Qualität
hinzu – ein Paket, eigentlich prädestiniert, um Grenzen effektiver auszureizen und auszudehnen
und die Chancen auf Erfolg zu verbessern. Aber mit den Jahren kamen auch die Vorsicht und
die Vernunft. Zumal sich die eigenen Grenzen auch deshalb ständig verschieben, weil sie
abhängig sind von Erfolg und Form. In Zeiten, in denen Aufwand und Ertrag und die Resultate
stimmen, in Zeiten, in denen sich Elisabeth Brandau körperlich robust, stark und
wettbewerbsfähig fühlt, ist sie viel mehr in der Lage, Risiken zu meistern und Grenzen
auszuloten, ohne sie zu überschreiten. Es ist eine beliebte wie vereinfachte Floskel, zu
behaupten, Sportler seien „gut drauf“. Aber sie beschreibt den Zustand, in dem Sportler von
einer unerschütterlichen Selbstverständlichkeit getragen werden, ziemlich treffend. „Wenn ich
gut drauf bin, die Form stimmt und das Selbstvertrauen, dann gelingt mir einfach mehr. Dann
traue ich mir auch mehr zu“, sagt sie.
Aber Elisabeth Brandau ist nicht immer gut drauf. Kein Profisportler ist das. Die Form
stimmt nicht immer. Und manchmal fehlt das Selbstvertrauen. Solche Momente können extrem
frustrierend sein. Oder verlockend. Trügerisch sogar. Und sie können deshalb regelrecht fatal
sein, weil Mountainbike-Rennen wegen ihrer schwer zu kalkulierenden Risiken, wegen ihrer
Unwägbarkeiten, dazu verleiten, fehlende Form und Fitness durch ein höheres Risiko zu
kompensieren. Das ist prinzipiell nicht unmöglich, aber selten zielführend, weshalb Übermut
der vielleicht gefährlichste Gegner auf der Strecke ist. „Ich erinnere mich noch an eine Straßen-
Weltmeisterschaft. Wir sind zu zweit ausgerissen und hatten es bis 200 Meter vor dem Ziel
geschafft, vorne zu bleiben und dann gab es doch einen Zielsprint. Das war hart, obwohl ich
gekämpft habe bis zum Umfallen“, sagt Elisabeth Brandau
Die richtige Balance ist wichtig. Nicht nur, wenn es darum geht, Risiken rational zu
beurteilen und Grenzen realistisch einzuschätzen. Auch das Material unterliegt gewissen
Belastungsgrenzen und jede Form von Überbeanspruchung kann unheilvolle Folgen haben. „In
der Regel gilt: Umso leichter das Rad, umso agiler ist man und braucht umso weniger Kraft. Es
bedeutet aber auch, dass das Rad leichter brechen kann. Ich kontrolliere es deshalb ständig auf
kleine Risse, aber ich werde jetzt nicht nur drei statt sechs Schrauben an den Bremsscheiben
haben, nur um Gewicht zu sparen“, sagt Elisabeth Brandau. „Das ist es nicht wert.“ Was
gleichwohl für sie selbst gilt, weil auch der Körper eines Leistungssportlers seine Grenzen hat.
Weil es wichtig ist, Belastungen richtig abzuschätzen, den Körper nicht zu überlasten:
„Leistungssport verlangt dem Körper immens viel ab. Deshalb achte ich sehr auf meine
Ernährung und Regeneration. Das ist für die Leistung extrem wichtig und auch für das Leben
danach.“ Bis zu einem gewissen Grad lässt sich dieses Risiko zumindest kalkulieren, aber eben
nicht ausnahmslos. Selbst wenn Elisabeth Brandau nach intensiver Vorbereitung alles über
Bremswege, Anfahrtswinkel und Beschleunigungspunkte zu wissen glaubt. Selbst wenn sie
glaubt, jede Bodenwelle, jede Rinne und jede Kante zu kennen, so bietet jeder einzelne
Rennkurs dennoch genügend Gefahrenherde, die trotz aller Vorbereitung einen Rennverlauf
auf den Kopf stellen können. So geschehen Mitte Juli bei der Deutschen MTB XCO
Meisterschaft in Bad Säckingen. Mehrfach hatte Elisabeth Brandau die technisch wie
konditionell anspruchsvolle Strecke bei gutem Wetter inspiziert. Die Leistung und die
Ergebnisse der Vorbereitungsrennen waren vielversprechend. Doch dann machten ihr
Magenprobleme zu schaffen, kurz vor dem Rennen setzte heftiger Regen ein, der Start verlief
nicht gerade nach Wunsch und nach wenigen hundert Metern schlitzte ein Stein ihren Reifen
auf. Für Elisabeth Brandau ist das Rennen vorbei, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Es
ist schlicht und ergreifend Pech.